Ich habe gemischte Gefühle, wenn ich an die Doom-art, die Shit-art, die NO!art und an all das denke, was in den späten 50er und Anfang der 60er Jahre in der 10ten Straße in der March Galerie und in der Gertrude Stein Galerie los war. Halte ich mir diese besondere Kunst und diese Übelriechenden Dinge vor Augen, schwanke ich zwischen Zustimmung und Ablehnung hin und her, zwischen "Ja" und "Nein". In Form einer Selbstbefragung will ich versuchen, mir über diese ganz besondere Zeit Klarheit zu verschaffen, darüber, was damals in der 10ten Straße und später Uptown in der Gertrude Stein Galerie geschah:
NEIN, Lil, — erzähl' mir heute nicht, dass die "NO!art" besser sei als die "Flower Art", als die "Nude Art" oder irgendeine andere Kunst, sei es erotische oder unerotische, Pop, Minimal oder Konzept-Kunst. Erzähl mir nicht, dass die NO!art wichtiger für die Probleme unserer Zeit sei oder die Welt von den kranken Demokratien und der globalen Zerstörung retten könnte.
JA, Lil, — ich weiß, Du willst Erinnerungen an die Vergangenheit auffrischen, an die 10te Straße, die Doom Show, die NO!art Show, die ersten Pinup-Bilder in der March Galerie, die fragmentarischen Collagen von Boris Lurie und an die schmutzigen, staubigen und grausamen Plastiken von Sam Goodman. 1959 hast Du gegen Deine freundlichen Feinde in der Kunstszene gekämpft, gegen die, die die Shit-art, die Doom-art oder die NO!art nicht ausstehen konnten. Es war die Zeit, als Martha Jackson die Vorläufer der Pop-Art zur Ausstellung "Neue Medien - Neue Formen" einlud, eine Ausstellung, die auf neue künstlerische Ausdrucksweisen aufmerksam machen sollte.
NEIN, Lil, — Du scheinst ganz vergessen zu haben, dass Dich der starke Realismus in der March Galerie ganz schön beeindruckt hat. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Du einen Artikel für Deutschland schriebst, in dem Du sagtest, dass Dich diese von Lurie und Goodman geprägten Werke an John Heartfield und George Grosz erinnerten, an die politischen Manifeste nach dem Ersten Weltkrieg.
JA, Lil, — irgendwie ist diese Art politisch-realistischer Propaganda-Kunst- ich hasse den Ausdruck, muss es aber so nennen - bedeutungsvoll und wenn die Kunstgeschichte der 50er und 60er Jahre einmal geschrieben werden sollte, in ihrem Verhältnis zu politischen und historischen Ereignissen beurteilt würde, dann würde sich vielleicht herausstellen, dass diese spezifisch politische Protest- Kunst - Protest-Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg - der treffendste Ausdruck in unserer sogenannten kranken Zeit ist.
NEIN, Lil, — ich glaube, Du machst Dir was vor. Du versuchst, Dich davon zu überzeugen, dass Boris Lurie's und Sam Goodman's Arbeiten - historisch von heute aus beurteilt - eine nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Neuauflage einer Europäischen, insbesondere deutschen Kunstrichtung aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg darstellen. Ich glaube nicht, dass man so der Kunst der March-Leute von der 10ten Straße gerecht wird. Ich glaube - im nachhinein gesehen -, dass die Ideen dieser Künstler eine Rebellion ausdrückten, und zwar nicht so sehr eine "künstlerische" sondern vielmehr eine persönlich politische Rebellion. Die 10te Straße wurde dann ja ziemlich mies und langweilig, litt an künstlerischer Unterernährung. Die Künstler hatten es satt, nichts verkauft zu haben. Sie wollten den Erfolg in den Uptown-Galerien. Sie hatten die dreckige, verrottete, typische 10te Straßen "Schmiererei" satt. Sie brachten dann ja ihre Sachen in Ordnung und gingen damit auf die Madison Ave und die 57te.
JA, Lil, — ich kann mich genau daran erinnern. Aber ich erinnere mich auch daran, dass Du andererseits mit Deinen Europäischen Erfahrungen die dreckigen Pinup-Collagen von Boris - ich muss sie einfach mit George Grosz vergleichen -, diese gewisse nostalgisch rebellierende Art ganz gerne mochtest. Auch die Plastiken von Sam, die ein noch schlimmerer Mischmasch waren, besonders die eine mit den zerstückelten Soldaten, die auf einem Schachbrett Krieg spielten. In dieser Art zeigte die Berliner Kunst der Zwanziger Jahre ja zum Teil ihre Stärke. Der Geist der alten "Sturm Galerie": Otto Dix, deutscher Expressionismus, Bert Brecht, politisches Kabarett, Kurt Schwitters, Collagen, Collagen. Amerikanisierte Collagen, größer, aber nicht viel besser. Manchmal sahst Du in dieser Kunst - wenn Du ehrlich bist - die Kabaretts der Vor-Hitler-Zeit, sahst die Montagen, das Bühnenbild, den Hintergrund, den diese Kabaretts abgaben. Sie waren damals so populär. Alle inspiriert von Hannah Hoech, John Heartfield und Kurt Schwitters. Goodman's und Lurie's Schreckens- und Untergangs-Ausstellungen von 1959-1961 schienen mir ein Spiegelbild der Verzweiflung nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein.
NEIN, Lil, — zu jener Zeit warst Du ganz schön fasziniert von den jungen New Yorker Künstlern, den Rauschenberg's, Jasper Jones' und Oldenburg's, die nach Deiner Meinung dem Schwitters-Heartfield-Hoech-Syndrom etwas entgegengesetzt hatten. Zu der Zeit, als der Abstrakte Expressionismus akademisch wurde, fandest Du diese drei Prä-Pop-Künstler aufregend und hast Dich in Deinen eigenen Arbeiten von ihnen inspirieren lassen.
JA, Lil, — jetzt lügst Du wieder. Du bringst alles durcheinander. Du fandest die March Galerie - schmutzig wie sie war - mit der Steintreppe in den Keller runter, die dort herumliegenden Penner, den ganzen Kunstbetrieb des Tenth-Street-Slums sehr new-yorkerisch und sehr unbequem!
JA, Lil, — Schmutz ist unbequem, im Leben wie in der Kunst. Deshalb mochtest Du, wenn Du es ehrlich zugibst, die sauberen Campbell Suppendosen, die sauberen Marilyn Monroes, die sauberen Brillo Schachteln, diesen Saubermann Warhol, als sein Stern am schmutzigen Untergang-, Nein- und Protest-Himmel aufging.
JA, Lil, — ich weiß, Du hast die ganze Zeit versucht, Dich selbst davon zu überzeugen, dass der saubere "Protest" besser ist als die rohe und schmutzige Form, weil Du der Wirklichkeit entfliehen wolltest, den schmutzigen Wänden, den dreckigen Atelierböden, den verdreckten Korridoren, den Kakerlaken, den Bowery Pennern, dem elenden Saustall, wo Menschen wie Scheiße auf der Straße und vor den Türen der Künstlerateliers rumliegen, den Bildern von Kriegsmassakern und Kriegstoten, die Täglich Deine Augen bombardierten, sogar im Farbfernsehen, in den bunten Illustrierten und in den Kinos.
NEIN, Lil, — Du musst jetzt Schluss machen mit Deiner Selbstbestätigung. Sonst wirst Du unter dem Druck der gegenwärtigen menschlichen Situation von 1969/70 noch verrückt. Wenn Du eine Kunstform gegen die andere verteidigen willst, wirst Du schizophren. In Wirklichkeit versuchst Du ja nichts anderes, als eine neue und wahrhaftigere Ausdrucksweise in der Kunst sichtbar zu machen, eine Form, die der revolutionären Situation in der Welt relevant ist. Du bist hin und her gerissen zwischen einer reinen "Ästhetischen" und einer rein "erzählenden" Annäherung. Du kannst Dich nicht entscheiden. Es ist ein Hass-Liebe-Engagement, ein Jing-Jang-Streit zwischen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle.
JA, Lil, — Jetzt endlich komme ich zu einem Bekenntnis: "Die Form der March-Galerie-Kunst am Anfang der 60er Jahre kann man als Vorläufer der Underground-Bewegung betrachten ..."